Hände überreichen Krankenkassenkarte an Arzt odr Krankenschwester in Praxis

Daten-Matching für neue Wege in der MS-Forschung

Veröffentlicht am 12.08.2021

Das MS-Register der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft in Hannover dokumentiert eine der schwersten und rätselhaftesten Erkrankungen des zentralen Nervensystems. Ein innovatives Projekt könnte diese Arbeit auf eine neue Stufe heben. 

Experteninterview mit
Piktogramm Experte
Alexander Stahmann
Geschäftsführer der MS Forschungs- und Projektentwicklungs-gGmbH* (MSFP)

Eine Vertrauensstelle schützt die Identitäten von Multiple-Sklerose-Patienten

Weil das Register seine Daten mit denen von Krankenkassen verknüpft, könnte die Forschung bald weitaus umfassendere Einblicke gewinnen. Alexander Stahmann, Geschäftsführer der MS Forschungs- und Projektentwicklungs-gGmbH* (MSFP) erklärt im Interview, wie die Kooperation funktioniert und welche Rolle der Vertrauensstellendienst CenTrust dabei spielt.

Das MS-Register gibt es nun schon seit 20 Jahren. Der Bekanntheitsgrad steht aber hinter dem der Krebsregister zurück. Welche Mission verfolgen Sie in Hannover?

Zum Zeitpunkt der Gründung ging es eher darum, überhaupt einen Überblick über die Verbreitung von multipler Sklerose und ihre Behandlung in Deutschland zu bekommen. Noch heute gibt es lediglich Hochrechnungen über die tatsächlichen Fallzahlen. Bis 2014 galten Schätzungen, beispielsweise aus Doktorarbeiten, als einzige Quelle. Und wie unzureichend die Datenlage lange war, zeigt auch ein Blick auf die kurze Zeit, die ich jetzt beim MS-Register arbeite. Als ich 2014 anfing, ging man hierzulande von etwa 130.000 MS-Erkrankten aus. Inzwischen liegen wir bei deutlich über 200.000 MS-Erkrankten, sind möglicherweise schon in den Bereich der Viertelmillion vorgedrungen. Wir wollen dabei helfen, die medizinische Versorgung der Erkrankten zu verbessern, und die Erforschung der MS voranbringen. Leider bestehen sowohl in der Versorgung als auch im Verständnis der Erkrankung noch einige Defizite. Unsere Versorgungsforschung hilft etwa den Patientenvertretern, die richtigen Argumente in der Diskussion mit den Kostenträgern an die Hand zu geben.

Und nicht zuletzt kann das Register selbst einen Beitrag zu zielgerichteten Therapien leisten ...

Richtig. Das MS-Register hat mit Blick auf die Forschung eine wichtige Funktion. Vor allem, weil wir die Subgruppen in den Blick nehmen können – MS ist die viel zitierte Krankheit der 1.000 Gesichter und verläuft bei den meisten Patienten in Phasen. Je nach Phase verändern sich die Therapieoptionen. Es bedarf also einer klaren Aufschlüsselung. Dabei können wir helfen.

Wie unterstützen Sie die Forschung genau?

Zum Beispiel können Forscher über das Register Teilnehmer für klinische Studien rekrutieren. Technisch sind wir mittlerweile sogar so weit, selbst randomisierte klinische Studien aufzusetzen. Zudem werten wir Daten für Forschungsprojekte aus – für Vorhaben auf nationaler Ebene, aber auch im Rahmen internationaler Kollaborationen. Am Ende stellen wir den Wissenschaftlern jedoch nur die Auswertungen zur Verfügung, also aggregierte Ergebnisse – nicht die Datensätze zu einzelnen Patienten.

Obwohl Letzteres ja durchaus möglich und nicht zuletzt Teil eines neuen Projekts ist. Worum geht es?

In aller Kürze zusammengefasst: Wir verknüpfen die Registerdaten von MS-Patienten mit deren Krankenkassendaten. Die Wissenschaft kann diese Daten dann für ihre Forschungsvorhaben nutzen – vorausgesetzt, sie haben erfolgreich den Antragsprozess bei uns und den Aufsichtsbehörden der Krankenkassen durchlaufen und die Patienten haben ein entsprechendes Einverständnis gegeben. Meines Wissens ist unser Projekt einzigartig. Wir kooperieren ja nicht nur mit einem Partner, sondern mit 25 verschiedenen Krankenkassen – unser Projekt wird aus dem Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) gefördert. Aus unserer Arbeit sollen sich letztlich Handlungsempfehlungen für ähnliche Projekte ableiten lassen.

Was macht die Krankenkassendaten so wertvoll?

MS ist eine Erkrankung des zentralen Nervensystems. Unsere Registerdaten stammen ausschließlich von neurologischen Experteneinrichtungen. Sie verraten uns schon einiges: Wie lange Erika Mustermann MS-Patientin ist, wann die Diagnosestellung erfolgte und wie die Erstsymptomatik aussah. Außerdem erfahren wir, welche Immuntherapeutika sie erhalten hat und wie Symptome behandelt wurden. Allerdings sind MS-Patienten auch bei anderen Ärzten in Behandlung. Mehr als die Hälfte der Betroffenen ab 55 Jahren leiden beispielsweise an einer Blasenfunktionsstörung und müssen deshalb zum Urologen. Und meist sind noch weitere Fachärzte involviert, weil mit der MS viele andere Erkrankungen einhergehen. Informationen all dieser Mediziner könnten für uns und für die Forschung extrem wertvoll sein. Aber sie bleiben uns in der Regel vorenthalten. Denn während gegenüber einem Krebsregister alle Mediziner meldepflichtig sind, können wir allenfalls auf freiwillige Mitarbeit der Nicht-Neurologen hoffen. Die Krankenkassendaten bieten uns einen Ausweg. Sie enthalten die Informationen der anderen Versorgungsbereiche, zumindest über die Abrechnungsziffern. Wir können damit Begleiterkrankungen und -medikationen sehr gut erfassen, der Forschung ein umfassenderes Bild liefern.

Wenn die Abrechnungsdaten die Informationen sämtlicher Fachbereiche enthalten, sollten sie doch eigentlich der Goldstandard sein, oder? Warum werden diese Daten besser, wenn man sie mit denen des MS-Registers verknüpft?

Tatsächlich bestehen berechtigte Zweifel daran, dass sich Krankheitsverläufe allein durch die Abrechnungsdaten der Kassen abbilden lassen. Die neurologischen Ereignisse, die wir im Register dokumentieren, finden sich hier nicht wieder, da eine Codierung für die Abrechnung nicht immer notwendig ist. Ein anderes Beispiel: Im Register ist ersichtlich, wie lange ein Patient schon an MS leidet. Den Krankenkassen liegt diese Information so eher nicht vor, unter anderem weil Daten häufig zeitlich limitiert sind. Kurz: Wir können den neurologischen Verlauf sehr detailliert abbilden, inklusive der verschiedenen Schweregrade und Behandlungen. Die Krankenkassen wiederum können mit ihren Daten zu Begleiterkrankungen und Leistungen das Bild vom Patienten vervollständigen.

 

Wo liegen die großen Herausforderungen bei der Zusammenführung der Daten?

Natürlich im Datenschutz. Und da hilft es nicht gerade, dass uns in Deutschland eindeutige Identifier fehlen, die wir für Datenzusammenführungen dieser Art nutzen können. Selbst die eGK-Nummer ist ungeeignet, da 13 Prozent der Menschen hierzulande keine eGK haben, unter ihnen Privatpatienten, Selbstzahler und Angehörige der Bundeswehr. Die Steuerzentralnummer als Identifier wiederum dürfen wir für unsere Zwecke nicht nutzen. Also bleibt die Auseinandersetzung mit den Identitätsdaten der Patienten – Vorname, Nachname, Geburtsname, Geburtstag und Geschlecht. Genau diese Informationen liegen sowohl beim Treuhänder unseres Registers als auch bei den Krankenkassen vor. Wenn wir sie miteinander abgleichen, muss das unter höchsten Datenschutzanforderungen passieren.

Wie funktioniert das Datenschutzkonzept?

Wir als Register sehen nur die medizinischen Daten der Patientin Erika Mustermann. Die dazugehörigen identifizierbaren Daten liegen bei unserem Datentreuhänder. Allerdings darf dieser sie nicht einfach so verschicken, nicht einmal an die Bundesdruckerei GmbH, deren CenTrust-Plattform ja als Vertrauensstelle (VST) zwischengeschaltet ist und am Ende den Abgleich vornimmt. Unser Datentreuhänder – ebenso wie die entsprechende Stelle bei den Krankenkassen – muss die identifizierbaren Daten zunächst durch ein Programm zur Einwegverschlüsselung schicken. Und erst die Hash-Werte, die dabei entstehen, gehen zur CenTrust-Plattform. Diese sieht dann also nicht Erika Mustermann mitsamt ihren persönlichen Informationen, sondern nur Codes. Lediglich das Geschlecht bleibt im Klartext. Eine Verschlüsselung würde da – im Falle der MS – keinen Sinn ergeben. Am Ende hätte man nur zwei Hash-Werte und bei der MS ist die Verteilung auf die beiden binären Geschlechter sehr gut dokumentiert. Der Hash-Wert ließe sich dadurch sehr leicht entschlüsseln.

Ist dieses Datenschutzkonzept denn weit verbreitet?

Es gibt zumindest viele Szenarien, in denen der Ablauf einfacher ist. In solchen Szenarien würde die Vertrauensstelle von den Quellen die identifizierbaren Rohdaten erhalten, diese abgleichen und dann Matching-IDs generieren. Für unser Vorhaben ist das rechtlich keine Option. Deshalb haben wir auch sehr intensiv nach passenden Dienstleistern gesucht, die das Matching auf Basis von einwegverschlüsselten Daten vornehmen können. Am Ende fiel die Wahl auf die Bundesdruckerei GmbH mit ihrer CenTrust-Plattform.

Und wie genau läuft das Matching über CenTrust ab?

Einfach erklärt: Die Vertrauensstelle CenTrust erhält zwei Excel-Tabellen mit Hash-Werten. Eine stammt von unserem Datentreuhänder, die andere von der Krankenkasse. In diesen Tabellen sucht die VST gezielt nach Überschneidungen, nach sicheren Matches. Am Ende schickt sie uns und der Kasse je eine Zuordnungsliste mit allen Patienten, für die es ein Match gab. In dieser gibt es zu jeder Person einen Studien-Identifikator-Code, den wir sowie die Kassen mitsamt den medizinischen Daten an die Auswertungsstelle senden. Hier greift dann eine weitere Sicherheitsmaßnahme: „Unser“ Studien-Identifikator-Code für Erika Mustermann unterscheidet sich von dem, den die Krankenkasse für sie bekommt. Weder das Register noch die Kassen sollen die Informationen des jeweils anderen direkt nutzen können. Die volle Bandbreite an medizinischen Daten wird nur den Forschern von der Auswertungsstelle zugänglich sein, die den konkreten Patienten nicht identifizieren können. Für sie erstellt die Bundesdruckerei eine eigene Matching-Liste, die zeigt, welcher Register-Studien-Identifikator-Code welchem Krankenkassen-Studien-Identifikator-Code entspricht. Aus den Studien-Identifikator-Codes ist für die Auswertungsstelle kein Rückschluss auf die Identitäten der Patienten möglich.

Was macht CenTrust so interessant für diese Art der Datenzusammenführung?

Die klassischen Vertrauensstellen sind für gewöhnlich bei den Krebsregistern angesiedelt. Dementsprechend stark orientiert sich ihre Arbeit am Krebsregistrierungsgesetz, nach dem sie mit den Klarnamen der Patienten arbeiten dürfen, um Doppelmeldungen etc. zu erkennen (Record Linkage). Da wir eben keine Klardaten bereitstellen können, mussten wir erst unser eigenes Konzept mit der VST der Bundesdruckerei abstimmen. Als wir auf die Dienstleistersuche gingen, sind wir auf die Bundesdruckerei und deren CenTrust-Plattform gestoßen. Die digitale Plattformlösung ist flexibel und eignet sich für verschiedene Anwendungsfälle, in denen ein Vertrauensstellendienst zur Pseudonymisierung und Datenzusammenführung notwendig ist.

Die Zusammenarbeit mit den Krankenkassen dürfte die Bedeutung des Registers auf lange Sicht erhöhen. Welche Ziele haben Sie unabhängig davon?

Es gibt aktuell drei Schwerpunkte: Erstens möchten wir noch besser am Dokumentationsprozess mitwirken. Das heißt: Wir wollen weg von einer rein registerspezifischen Dokumentation und hin zu einer MS-spezifischen Dokumentation. Dafür braucht es Schnittstellen zu den verschiedenen Klinik- und Praxissystemen. Zweitens soll die Dokumentation der multiplen Sklerose einen höheren Stellenwert bekommen. MS ist eine Erkrankung mit hohen gesellschaftlichen und Versorgungskosten. Daher hat ihre Dokumentation aus unserer Sicht eine ähnliche gesetzliche Verankerung verdient wie die von Krebs. Dadurch würde sich das MS-Register eben nicht mehr nur auf neurologische Daten beschränken und es könnte alle MS-Patienten abbilden. Drittens wollen wir die Patienten in die Dokumentation ihrer Krankheit einbeziehen. Sie sollen selbst aktiv Informationen beisteuern können.

*Die MS Forschungs- und Projektentwicklungs-gGmbH ist eine Tochtergesellschaft der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft, Bundesverband e. V. (DMSG).

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